Reichenfeld – Geschichte der kleinen Dinge

Was passiert, wenn nichts passiert?

Was passiert wenn nichts passiert außer „Menschen, Autos und Wolken“? Kann dieses „nicht passieren“ auch als ein Ereignis angesehen werden? Ich sitze auf der Bank am Illsteg in Feldkirch und beobachte die Menschen. Man müsste denken, dass diese Aktivität des Leute Beobachtens sehr schnell mit einer ermüdenden Wirkung einhergeht. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Die Zeit verrinnt, ja fliegt, als würden sich die Menschen, auf ihrem Weg von A nach B die Minuten zuspielen und weitertragen. Die Brücke – eine Schnittstelle zwischen zwei Ereignissen. Die Verbindung zweier selbstständiger Orte, durch den Fluss getrennt, welche aber durch die Brücke eine Einheit Bilden. Auf der einen Seite die Stadt, auf der anderen Seite das Reichenfeld. Spielparadies der Kinder, Pausenstätte der Schüler, Durchgangsgebiet der Spaziergänger.

Wiese

Es ist Freitag. Buntes Treiben heute auf der Brücke. Die einen grüßen sich schüchtern mit verstohlenem Lächeln. Die andere Blickt abschätzig am Gegenüber herab. Die Alte Frau mit Krücke lässt sich Zeit. Sie hat offenbar keinen Termin den es einzuhalten gibt. Der Anwalt mit Anzug rauscht vorbei, sein Ziel vor Augen. Kurz danach gleich die Anwältin. Blondes Haar, Schwarze Stilettos, kurzer Rock. Ich dachte so etwas Tragen die Leute nur im Film zur Arbeit. Eine Frau mit Gehbehinderung, welche fast nicht zu erkennen ist. Jene, deren Einkaufstüten lustig geschwenkt werden. Freude über die neuen Errungenschaften. Die, deren Tüten fest umklammert werden. Rasch nach Hause. Starrer Blick. Der Fluss rauscht als wäre nichts.

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09Mein Blick fällt auf ein Stück Papier, welches nur wenige Schritte neben meiner Bank im Kies liegt. Zwar habe ich vorher schon realisiert, dass es dort liegt, doch erst jetzt nehme ich die weiß gedruckten, auf knallgrünem Hintergrund stehenden Wörter wahr „Urban Gardening (…)“. Urban Gardening, ein Begriff der mir sehr wohl bekannt ist, der mir jedoch noch nie im Zusammenhang mit der Stadt Feldkirch untergekommen ist. Da fällt mir ein, dass ich gerade erst vor ein paar Tagen ein Hochbeet beim Palais Liechtenstein entdeckt hatte. Ein Beet mitten in der Stadt. Gibt es denn noch mehr solcher Projekte? Von unerwarteter Neugier angestachelt mache ich mich an die Recherche. Und so finde ich mich kurz darauf bei einem Vernetzungstreffen wieder, wo sich interessierte und engagierte Menschen, für öffentlich benutzbare Gärten in Feldkirch einsetzen. Es kommt auch das Projekt „Stadtgarten Feldkirch – Reichenfeld“ zur Sprache. Hierbei handelt es sich um ein Projekt, welches das unbebaute Grundstück, eingezäunt vom Alten Hallenbad, dem Pförtnerhaus und dem Kaffee Stella, zu einem gemeinschaftlich organisiertem Stadtgarten umwandeln möchte. Dieser Stadtgarten würde nach permakulturellen und biologisch-dynamischen Richtlinien genutzt. Einen Garten nach der Permakultur zu bestellen bedeutet, ein produktives Ökosystem zu errichten welches den Eigenschaften und Gesetzen der Natur entspricht und auf Nachhaltigkeit basiert. Im wesentlichen soll genau jener sonnige Bereich des Reichenfelds bepflanzt werden, welcher schon von den Jesuiten Patres zu Zeiten der Stella Matutina, als Hauseigener Garten zur Verpflegung der Schüler und Lehrer genutzt wurde.

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Zu Beginn des Projekts soll der Garten im Reichenfeld als Gemeinschaftsgarten und Ort der Begegnung funktionieren. Würde sich herausstellen, dass das Garten im Reichenfeld Anklang findet und gut aufgenommen wird, könnten noch weitere „fortgeschrittenere“ Projekte entstehen. Beispielsweise eine Kooperation mit diversen Events wie der Poolbar oder der ArtDesign, oder eine Verwendung des Gartens als Integrationsstätte für im Raum Feldkirch wohnende Asylwerber.

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Es ist Dienstag. Die Sonne scheint endlich wieder nach langen Regentagen. Mehr Menschen wieder auf der Straße. Die Reflexionen der Sonne glitzern auf dem Fluss. Die Brücke wirft ihren Schatten auf die Wasseroberfläche. Die Luft strotzt vor Frühlingsgefühlen. Kinder kreischen auf dem Spielplatz. Ich höre Stöckelschuhe auf der Brücke. Schritte im Kies. Die Schlösser an der Brücke ziehen Kinderhände an. Ein Lastwagen auf der Straße hinter mir. Neben mir nur volle Bänke. Menschen mit Sonne im Gesicht. Flügelschlagen der Tauben. Die Brückenpfeiler sind heute mit lustigen Strickmustern geschmückt. Zwei Frauen unterhalten sich. Soll wohl das Stadtbild verschönern. Ein Mann mit Kind im lila Anzug. Ein Hund. Das Kind streckt seine freie Hand aus, wird schnell vom Vater weitergezogen. Plötzlich die Sirene. Die ganze Brücke wird kurz ruhig und wendet den Blick der nächsten Brücke zu. Dort das Blaulicht. Eine kurze Pause, wie ein Herzstillstand. Dann weiter. Zwei schwarze Mäntel mit passenden glänzenden Schuhen. Anwälte Richtung Gericht. Die Sonne blendet mich so stark, dass ich die andere Seite der Brücke kaum erkennen kann. Weil Augen tränen. Und die Luft gleißt. Eine Frau mit ihrem Sohn. „Hallo Dani!!!“. Meine Nachbarsbank-Frau steht auf. „Hi, ich bin die Christine, eine Arbeitskollegin deiner Mutter“ – „Hallo“. Eine Gruppe von fünf Männern. Alle haben den gleichen dunklen Bart. Zwei Mädchen mit Eis. Die fünf schon wieder. Falsche Richtung.

Das Reichenfeld soll also um einen Gemeinschaftsgarten reicher gemacht werden. Was würde die Familie Reich wohl dazu sagen, welche im 14. Jahrhundert Nutzungsberechtigt war dieses Feld zu bewirtschaften und somit zur Namensgebung des heutigen Naherholungsgebietes beigetragen hat. Das Reichenfeld wechselte unzählige Male seine Besitzer und musste einige Streitereien bezüglich der Leitung und des Gebrauchs von Wasser über sich ergehen lassen. Ab 1900 begannen dann die großen baulichen Veränderungen im Reichenfeld. Der Gymnasialbau (heutiges Landeskonservatorium) der Stella Matutina mit Turnhalle (heutiges Pförtnerhaus). Der Justizpalast. Die Kaiser-Franz-Josef-Brücke, gefolgt von neuen Straßenzügen und vielen Privatbauten. die Finanzlandesdirektion.

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Das neue (alte) Hallenbad. Das Altersheim. Die Pädagogische Akademie, Volks- und Hauptschule, BORG. Jahr für Jahr wurde mehr Fläche bebaut, somit mehr Grünfläche zerstört und weniger bepflanzt. Im Jahr 1979 verlassen die Jesuiten das Stella Gebäude und somit den letzten Gemüsegarten zurück.

Es ist schön dort im Reichenfeld. Vor wenigen Jahrzehnten noch spielten die Schüler der Stella Matutina hier Fußball, im Winter Eishockey. Heute toben die Kinder am neuen Abenteuerspielplatz. Vor wenigen Jahrzehnten spielte dort das Stella Blech Orchester. Heute spielen dort Musikstudenten aus aller Welt. Vor wenigen Jahrzehnten pflanzten Patres dort Salat und Karotten. Mit ein wenig Glück pflanzen bald Menschen aus der Stadt Tomaten und Radieschen. Begegnen sich, tauschen sich aus, verbringen Zeit. Es hat sich so viel verändert im Reichenfeld. Und doch gar nichts.

Immer noch Dienstag. Ein Kirschroter Schal. Zwei Paar Stiefel. Einmal Türkis, einmal Braun. Ein junges Pärchen. Das Mädchen mit langem Braunen Haar, Ray Ban und Stoffbeutel. Aufschrift: Geourge, Gina und Deine Mudda. Die erste Zigarette heute, überhaupt die erste Zigarette seit meinen Aufzeichnungen. Kurz der Rauch dann gleich wieder weg.  Ein Stock rattert über das Gelände. Der Ton klingt noch lange nach. Hinter mir fährt ein Lastwagen vorbei. Qietsch-gelbe Hosen. Army-Grüne Hosen. Ein angestrengtes Lächeln im Gesicht. Immer dieselben Menschen und doch sind es andere. Heute. Gestern. Vor Jahren. Morgen. Kinder jauchzen.

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Füße baumeln von den Bänken neben mir. Ein weißer Ordner unterm Arm. Eine schwarze Schildkappe. Karohemd mit Hornbrille. Ein rosa Puppenwagen. Bus in fünf Minuten. Schnell packe ich meine Sachen. Jetzt gehe ich selbst über die Brücke. Schnelle Schritte. Richtung Reichenfeld, dann gleich re

chts. Über die einst fruchtbare Erde, an die heute niemand mehr denkt. Sonne im Gesicht. Erhobenes Haupt.

Blonde Haare. Hochgesteckt mit Haarband. Kameratasche. Rosa Stoffbeutel. Sonnenbrille. Was fällt den Menschen wohl an mir auf?