eine Reportage von Matthias Nachbaur
Ein Museum bewahrt Erinnerungen. Sorgfältig ausgewählte Erinnerungen an die Realität, die von rational denkenden Menschen so erinnert wurde und die – zumindest scheinbar – nachprüfbar ist. Doch was ist mit Träumen, Illusionen, Wünschen, jenen Aspekten, die nicht zum von uns gelebten Rationalismus zählen – der Rationalismus, der uns unserer Neugier beraubt hat, weil wir viele Dinge einfach nicht mehr für möglich halten – und sie vergessen.
Auf der Grenze zwischen Realität und Traum wandelnd sucht Matthias Nachbaur nach dem versteckten Museum in Fraxern, von dessen Existenz er gerüchteweise auf dem traditionellen Funkenfest des Dorfes erfährt. Er nimmt uns mit auf diese Suche nach dem Versteckten, auf welcher er fast Vergessenes wiederentdeckt – wobei deutlich wird, dass oft gerade im Alltäglichen – in einem Stein, in einem alten Stall – die Erinnerung existieren würde, aber von uns übersehen wird, wenn wir nicht mit offenen Augen durch die Welt gehen.
Für das Abspielen des akustischen Teils der Reportagekann dieser QR Code gescanntoder auf folgenden Link zugegriffen werden: www.chillabiz.com/hidden_museum/
Nichts. Erinnerungen krampfhaft zurückzuholen funktioniert nicht, deshalb einfach kurz abwarten. Bereits als Kind versuchte ich immer, mich an meine Träume zu erinnern. Ich fühlte mich dabei in der Rolle des Entdeckers dieser geheimnisvollen Traumwelt, eines Abenteurers. Ich liebe diese Welt, weil sie ganz anders ist als unsere von Alltag, Langeweile und grausamem Rationalismus geprägte Wirklichkeit. Im Traum kann ich meiner Neugier freien Lauf lassen. Da war doch… nein. Immer noch nichts, außer den stechenden Schmerzen im Kopf, die ich wohl, wie auch meine fehlende Erinnerung, den sechs Bier verdanke, die ich mir gestern Abend gegönnt habe. Ich mache einen langen Strich neben das heutige Datum, wie ich es immer mache, wenn keine Erinnerung bleibt und klappe das kleine Buch zu, in dem normalerweise meine Geschichten, Bilder und Entdeckungen aus der Traumwelt seinen Platz finden. Manche würden es ein Traumtagebuch nennen, doch für mich ist es ein kleines Museum meiner nächtlichen Wirklichkeit. Mein Museum? Es blitzt doch noch ein Gedanke auf, eine Erinnerung. Doch es ist keine aus der Traumwelt, sondern eine vom gestrigen Abend.
Nach dem zweiten Bier war meine Scheu vor Gesellschaft fast verflogen und ich begann Geschichten mit einem Freund, den ich noch aus der Volksschule kannte, auszutauschen. Ich war froh, dass ich mich überwunden hatte, auf das Funkenfest zu gehen, denn es machte mir Freude, Fabian zuzuhören und meinen Blick dabei im Feuer zu verlieren.
Das Funkenfest ist ein alter Feuerbrauch, der seinen Ursprung im heidnisch-germanischen Brauchtum hat. Mit dem Funkenfeuer soll nach der Interpretation von Franz Josef Fischer der Sieg des Sonnengottes über den Sohn des Nordens, den Winter, gefeiert werden. Dieser Brauch ist heute vor allem im schwäbisch-alemannischen Raum verbreitet und wird immer am ersten Sonntag nach Aschermittwoch gefeiert.
„Hast du schon mal etwas vom versteckten Museum gehört? Letzte Woche hat mir jemand erzählt, dass es in Fraxern ein verstecktes Museum geben soll. Es sei ganz in der Nähe des Funkenplatzes.“
Ein verstecktes Museum also? Hier? In Fraxern? Hier, wo alles gnadenlos ans Licht gebracht wird, ob es nun der Wahrheit entspricht oder nicht? Hier soll etwas versteckt sein? Und weshalb sollte man ein Museum überhaupt verstecken wollen? Oder habe ich mir das Ganze doch wieder nur aus Traumfetzen zusammengereimt?
Normalerweise verbringe ich meine Sonntage zu Hause und hänge den ganzen Tag über dem übertrieben schweren phoenixen-Rätsel aus der Wochenendausgabe des Standard. Heute allerdings scheint mir dieses versteckte Museum ein reizvolleres Rätsel zu sein. Diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, stehe ich schon mit Rucksack und fest geschnürten Wanderschuhen vor der Tür und mache mich auf den Weg. Aber wohin? Ich überlege kurz, wo ein Museum versteckt sein könnte, und mache mich wenig später auf in Richtung des nächsten Waldes.
Fraxern umfasst eine Fläche von rund neun Quadratkilometern, wobei davon über die Hälfte bewaldet ist. Zu diesem großen Baumbestand kommen außerdem noch die fast 3000 Kirschbäume dazu, für dessen Früchte das kleine Bergdorf seit Jahrzehnten bekannt ist.
Es ist still geworden. Ab und zu bricht ein Ast. Der Ruf eines Vogels, der bald aus der Ferne erwidert wird. Bald erreiche ich einen Platz, der mir seltsam bekannt vorkommt. Ich stehe mitten im Wald und lasse meinen Blick durch die Bäume schweifen. Plötzlich fällt mir ein kleiner Felsen auf, der mir sofort klar macht, dass mich mein Gefühl nicht täuschte. Denn ich war schon einmal hier. Vor einigen Jahren, mit meinen Cousins, die hier als Kinder ihr geheimes Versteck hatten.
„Früher war dort eine riesige Zeichnung von einer Spinne auf dem Felsen. Wir haben immer gesagt: ‚Gehen wir zum Spinnenfelsen!‘. Wenn man das heute jemandem erzählt, hat er keine Ahnung davon. Es ist heute kein Begriff mehr, ‚der Spinnenfelsen‘. Man kennt ihn nicht mehr. Wenn wir es vergessen haben, weiß es niemand mehr. Man sollte es fast aufschreiben.“
Im Laufe der Geschichte geht Wissen immer wieder verloren. Bei der Konservierung von solchem Wissen spielen Museen eine große Rolle. Sie sollen die Geschichte der Menschheit bewahren und zeigen. Wörtlich übersetzt ist das Museum das Heiligtum der Musen. Gegenstände der Kunst, Kultur und Wissenschaft werden dort gesammelt und ausgestellt.
Ein Baum sieht aus wie der andere. Trotz meines Gefühls, im Kreis zu laufen, erreiche ich nach einer Weile erleichtert den Waldrand und setze mich auf eine Holzbank, die vor einem verlassenem Stall steht. Der Geruch von altem Holz erinnert mich an meinen ehemaligen Volksschullehrer, der uns damals auch über diese verlassenen Ställe aufklärte.
„Früher wurden diese Wiesenställe gebraucht, weil die Bauern zuhause wenig Platz für das Heu hatten. Deshalb wurde ein Stall in der Wiese gebaut, und das Heu in diesem gelagert. Im Winter wenn die Bauern Zeit hatten, wurde das Heu dann nach hause geholt. Heute gibt es größere Ställe. Das bedeutet, dass der Stall in der Wiese überflüssig geworden ist.“
Diese verlassenen Ställe sind doch auch schon fast Museen. Außer mir vor Euphorie über meine neue Spur, die mich zum versteckten Museum führen sollte, schmettert mich ein ernüchternder Gedanke sofort wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Es könnte Wochen dauern, jeden dieser verlassenen Ställe zu finden.
Aber diesen habe ich ja schon gefunden – mit einem kurzen Blick durch die teilweise schon zusammengebrochenen Holzwände, an denen ich mich gerade ausgeruht hatte, erkenne ich: Das ist kein Museum, sondern ein verlassener Stall, dessen verfallene Futtertröge dennoch Geschichten zu erzählen wissen. Ich habe Freude daran, mir vorzustellen, wie hier früher reges Treiben herrschte.
Zufrieden habe ich mich schon auf den Rückweg gemacht, als ich an der Stelle vorbei komme, an der ich gestern in guter Gesellschaft, mit einem feinen Bier und dem wärmenden Feuer des Funkens den Abend verbracht habe.
„… dass wir in Fraxern ein verstecktes Museum haben. Es sei ganz in der Nähe des Funkenplatzes …“
Hier ganz in der Nähe, meinte Fabian. Auch dieser geheimnisvolle Wald, durch den ich mich heute gekämpft habe, war ganz in der Nähe, der Spinnenfelsen, der schon fast vergessen war, und auch die verlassenen Ställe, die für sich selbst schon so etwas wie Museen sind. All diese Dinge waren doch immer ganz in der Nähe, und doch habe ich sie noch nie so gesehen, wie ich sie heute sehen durfte. Man könnte fast sagen, ich habe heute mein eigenes Museum entdeckt.
In Gedanken versunken merke ich erst vor der Haustüre, dass mich meine Füße weiter heimwärts getragen haben. Inzwischen ist es auch schon Abend geworden und die wärmende Sonne hat sich bereits hinter die Alpen verzogen. Zufrieden und voller Vorfreude auf den nächsten Versuch, dieses kuriose Rätsel vom versteckten Museum zu lösen, mache ich mich wieder auf den Weg in die vertraute Traumwelt. Auf dass der morgige Tag mir weitere Einblicke in die Räume des Museums meiner Wirklichkeit eröffne.