Jüdischer Friedhof

Jüdischer Friedhof  – Eine Begegnung mit dem Gärtner

Hohenems – für mich bisher eine unbedeutende kleine Gemeinde, die ich eigentlich nur vom Durchfahren kenne. Zugegeben, ich war gelegentlich im Restaurant im Palast und als Zwölfjähriger mit meinen Eltern im Jüdischen Museum.

Mein Ziel ist der Jüdische Friedhof, für welchen man im Jüdischen Museum einen Schlüssel ausleihen kann. Die sehr zuvorkommende Dame beim Eingang zum Museum händigt mir für einen Pfand (ich ließ meinen Studentenausweis dort) den Schlüssel aus und drückt mir ein Blatt Papier mit genauer Lagebeschreibung in die Hand. Auf diesem befindet sich eine Karte und ein Busfahrplan, ich bin angenehm überrascht.

Nach einer Fahrt von wenigen Minuten erreiche ich den Friedhof, der etwas außerhalb gelegen ist, im Ortsteil „Schwefel“. Die letzte Kurve der Seitenstrasse enthüllt den Blick auf das Kulturdenkmal. Ich bin beeindruckt vom Erscheinungsbild. Es sieht so aus, als wäre er schon immer hier gewesen, ein Bestandteil der Landschaft und doch durch seine Mauern klar abgegrenzt. Die Einfamilienhäuser auf der linken Seite wirken benahe störend und befremdlich, da der Friedhof sich harmonisch und symbiotisch den Hang einbettet.

Der Friedhof besitzt ein großes Haupttor auf der Vorderseite, das mit einer Kette und einem Schloss versehen ist. Auf der Seite befindet sich ein kleines Tor auf dem zu lesen ist: „Der Schlüssel liegt im Jüdischen Museum“. Vorsichtig stecke ich den Schlüssel in den Zylinder und betrete ein für mich neues und unbekanntes Reich. Ich bin positiv überrascht von der Ordnung und Sauberkeit des Areals. Zwischen den teilweise sehr großen und in den Himmel ragenden Grabsteinen befindet sich kein Gestrüpp oder Äste vom angrenzenden Wald. Der Friedhof hat eine sehr beruhigende Ausstrahlung, meine „3 Espresso“ Hektik und Unruhe ist mit einem Schlag verschwunden und das historische Kulturmonument, das 1617 gegründet wurde zieht mich in seinen Bann.

Ich schlendere durch die Reihen der Grabsteine. Die Zeit hat ihren Tribut gezollt, oft ist gar keine Inschrift mehr zu erkennen, da der Regen, Schnee, Wind und die Sonne über Jahrhunderte auf die Steinoberflächen eingewirkt haben. Allerdings entdecke ich auch neue Gräber, wie zum Beispiel jenes von einem gewisser Harry Weil. Er ist 2003 gestorben. Im Museum habe ich herausgefunden, dass er vor dem NS Regime geflüchtet und Hohenems als seine Heimat nie vergessen hat. Sein Wunsch war es dort begraben zu werden. Somit wird der Friedhof offensichtlich heute noch genutzt, das hätte ich mir nicht gedacht.

Ich stelle mir die frage, ob jiemand aus Hohenems einen persönlichen Bezug zum Friedhof hat. Ich frage im Museum nach, ob jemand aus Hohenems regelmäßig den Schlüssel entlehnt. Ich bekomme zur Antwort, dass nur Besucher und Touristen den Friedhof besuchen. Ich frage bei jedem Besuch unterschiedliche Angestellte, bis ich endlich ein Spur finde: es gibt einen Friedhofsgärtner.

Ich bitte eine Mitarbeiterin des Museums um Kontaktinformationen. Nach wenigen Minuten wird mir ein kleines gelbes Post-it ausgehändigt auf dem die Telefonnummer eines gewissen Herrn Adolf Pleterski zu finden ist. Ich habe einen Hohenemser gefunden und ich bin sehr gespannt, wer das ist und was er mir alles erzählen kann. Bei meiner ersten telefonischen Kontaktaufnahme muss ich leider feststellen, dass Herr Pleterski krank ist. An der Stimme am anderen Ende der Leitung kann ich erkennen, dass es sich um einen bereits älteren Mann handeln muss. Ich kann ihm offensichtlich meine Absicht nicht richtig mitteilen, denn er versichert mir, dass er nicht viel zu erzählen hat, er kümmere sich nur um den Friedhof. Auch höre ich ein wenig Misstrauen mitschwingen. Ich lasse nicht locker und bitte ihn höflich um einen gemeinsamen Besuch des Friedhofs. Schließlich willigt er ein und wir vereinbaren ein Treffen vor Ort.

Ich befinde mich auf dem weg um Herrn Pleterski zu treffen. Ich habe gemischte Gefühle. Auf der einen Seite bin ich sehr neugierig auf der anderen Seite bin ich verunsichert, ob ich sein Vertrauen gewinnen und sein Misstrauen auflösen kann, und erfahre, was ihn mit dem Friedhof verbindet. Ich bin überrascht, er macht trotz seiner 70 Jahre einen erstaunlich agilen Eindruck. Er ist relativ groß gewachsen und hat eine schlanke Figur. Er begrüßt mich sehr freundlich und ich drücke seine Hand und stelle mich vor.

Er öffnet das Seitentor und wir betreten den Friedhof. Ich höre ein bisschen Stolz in seiner Stimme, als er mir erzählt, dass er sich schon 32 Jahre lang um den Friedhof kümmert. Bezahlt wird er vom Verein zur Erhaltung des jüdischen Friedhofs. Dieser wurde 1954 von Nachfahren der jüdischen Gemeinde gegründet, um mit dem Kauf des Grundstücks von der Gemeinde Hohenems das Bestehen des Friedhofs zu sichern.

Ursprünglich stammt Herr Pleterski aus Slowenien und ist 1965 nach Hohenems gezogen. Er erklärt mir, dass er jemand sei, der gerne arbeitet und nicht faul herumsitzen kann. Er hat 30 Jahre in Hohenems gearbeitet. Mich interessiert, wie er dazu gekommen ist, sich um den Jüdischen Friedhof zu kümmern. Er sei ganz zufällig darauf gestoßen, als er in der damaligen Mobil Tankstelle saß, zeigte ihm die Chefin eine Anzeige im „Blättle“ – eine regionale Zeitung – und meinte scherzhalber „… so du fauler Hund, das wäre etwas für dich, wo du was zu tun hast!“ Er dachte sich, warum nicht, Zeit habe er ja. Als er vor 32 Jahren den Friedhof zum ersten mal betreten hat war alles verwildert und zugewachsen. Alleine mit dem Holz, das er in mühseliger Arbeit vom Friedhof entfernt hat, konnte er 3 Jahre lang heizen, berichtet er mir. Er drückt mir sein Bedauern aus, dass in den ersten paar Jahren seiner Tätigkeit keine Fotos gemacht hat, um zu zeigen, in welchem Zustand der Friedhof war, bevor er angefangen hat, ihn wiederherzurichten, denn, wie er meint, es sei „sein Lebenswerk“. Er meint, so was könne man nur machen, wenn man ein Herz dafür hat. Es ginge nicht um Geld, sondern um den Stolz. Es sei viel mehr Wert, wenn Leute den Zustand des Friedhofs bewundern, denn das sei viel mehr Wert, als was er bezahlt bekommt. Das sei seine Einstellung, er freue sich, wenn er helfen kann.

An das aufhören denke er nicht. Solange er noch könne, werde er das auch weiterhin machen. “Wenn man auf die 70 zugeht, dann spürt man das, fertig!”. verrät er mir und will damit andeuten, dass ihm manche Arbeiten nicht mehr so leicht fallen, wie vor einigen Jahren. Sein Blick schweift immer wieder über den Friedhof, es scheint so, als ob er sein eigenes Werk bewundert. Er dachte nur einmal ans Aufhören, doch der damalige Leiter des Vereins Herr Bollag bat ihn weiter zu machen, denn so erzählt er mir, sagte Herr Bollag damals: “Zuerst müssen sie mich dort begraben.” 2003 war es soweit, nach langjährigem Kampf geben Krebs wurde der Leiter des Vereins auf dem Jüdischen Friedhof zur Ruhe gesetzt.

Sein Sohn bat an Herrn Pleterski weiter zu machen, was dieser nicht ablehnen konnte. Allerdings meint er auch, er sei mit dem Friedhof nicht verheirat, wenn eines Tages ein neuer Chef (damit meint er die Vereinsleitung) kommt und er seine Arbeit nicht auf seine Weise tun kann, dann kann er sich vorstellen, aufzuhören. “Ein neuer Chef bringt meist neue Gesetze und neue Sitten, das mag ich nicht.”, stellt er fest. Während ich seinen Erzählungen lausche, fällt mir eine aus Stein gemachte Stiege auf, die zwischen den Grabsteinen den Hang hinaufführt. Ich frage ihn, ob diese Stiege schon immer hier war. Er verrät mir, dass die Stiege bereits vorhanden war, allerdings in einem derart schlechten Zustand war, dass er sie reparieren musste. Er zeigt auf ein Metallgerüst, welches einen Grabstein hält. Oft fallen Grabsteine um, besonders bei starkem Wind, und er stellt sie danach wieder auf, berichtet er. Von Frühling bis Herbst kümmert sich Herr Pleterski um den Rasen, kultiviert die Pflanzen und legt überall dort Hand an, wo es etwas zu reparieren gibt.

Nach jüdischem Glauben gehört der Ruheplatz auf einem Friedhof dem Toten. Somit ist es streng genommen nicht zulässig, umgefallene Grabsteine wieder aufzustellen, zu renovieren oder überhaupt zu ersetzen. Allerdings steht dieser Ort unter Denkmalschutz, somit werden kleine Renovierungsarbeiten mit Mitteln der Vereins und des Denkmalschutzamtes in Wien durchgeführt. In einem Gespräch mit Herrn Dr. Johannes Inama (Aktuar des Vereins) erfahre ich, dass Renovierungsarbeiten nur im gewissen Rahmen ausgeführt werden, da die finanziellen Mittel begrenzt sind. Das Ausgraben von Grabsteinen, die sich bereits unter der Erde befinden, ist aus Gründen des Respekts vor den Verstorbenen nicht vorstellbar und ohnehin zu kostspielig. Er erzählt mir auch, dass in den vergangenen Jahren einige Nachkommen Grabsteine ihrer Ahnen in finanzieller Eigeninitiative ersetz oder renoviert haben.

Die Frage, ob er noch Juden in Hohenems kenne, verneint er. Die sind alle geflüchtet, meint er. Wer 1938 nicht geflüchtet ist, wurden umgebracht. Er wüsste nicht, wo man diese Menschen hingebracht hat, erzählt er. Viele alte Hohenemser meiden den Friedhof und kommen nicht einmal in die Nähe, weiß er zu berichten. Wenn er abends am Stammtisch Karten spielt, muss er sich ab und zu hämischen Bemerkungen gefallen lassen: was er denn auf dem Friedhof mache, ob er selbst ein Jude sei, weil Juden gehören nicht nach Hohenems. Solche Aussagen sieht er nüchtern, er ist stolz auf das, was er auf dem jüdischen Friedhof geleistet hat.

Ich bitte Herrn Pleterski um ein Foto. Zu meinem Bedauern bekomme ich zu hören, dass er nicht fotografiert werden will, da er mit der Presse schlechte Erfahrungen gemacht hat. Er erzählt mir, dass ein Filmteam ihn schon einmal aufnehmen wollte, doch er will nicht, dass es „an die große Glocke gehängt wird“, was er hier mache. Ich respektiere seinen Wunsch und bin ihm sehr dankbar für die Zeit, die er mir zur Verfügung gestellt hat und die Offenheit über seine Arbeit und sein Werk zu erzählen.

Er deutet auf meine kamera und bittet mich ein Foto vom Friedhof von der Bundesstraße aus zu machen, seine kleine Digitalkamera mache aus so einer großen Distanz keine sehr guten Bilder. Er wäre glücklich darüber, wenn ich ihm einen Abzug zuschicken könnte, da er schöne Bilder vom Friedhof sammelt, die eines Tages seine Enkel ansehen können und einen Beweis für seine Leistung und sein Werk liefert, wenn er selbst auf einem Friedhof seine letzte Ruhestätte findet. Natürlich werde ich seiner Bitte nachkommen.

Die besondere Ausstrahlung dieses Ortes, zu dem Adolf Pleterski sicher einen wesentlichen Teil beigetragen hat, wird mich sicher wieder dorthin zurückführen. Die Bedeutung dieses Kulturdenkmals geht weit über die Grenzen Hohenems hinaus, denn Menschen aus aller Welt sind mit dem Andenken an ihre Vorfahren für immer mit Hohenems verbunden.

Eine Reportage von Wolfgang Hirn

20. März 2010 | Kommentarbereich geschlossen